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Stellungnahme der LAG zur Weiterentwicklung der ambulanten Sozialpsychiatrie

17.02.2016 von LAG Redaktion

Stellungnahme anlässlich des Kolloquiums der Forschungsstelle für Sozialrecht und Sozialpolitikan der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg

Es ist unerlässlich, dass der Träger der Eingliederungshilfe in dem System der Ambulanten Sozialpsychiatrie:

  • Gemäß seiner Versorgungs- und Gewährleistungsverantwortung die bedarfsgerechte Versorgung Betroffener auch bei Leistungsspitzen, -veränderungen oder -krisen strukturell sicherstellt,

 

  • Den zuerkannten Leistungsumfang für die Betroffenen transparent macht, damit sie ihre Hilfen überblicken, kontrollieren und im Einzelfall darauf hinwirken können, dass sie zeitnah und differenziert den Bedarfen angepasst werden.

In dem Ziel der sozialräumlichen Gestaltung und der Schaffung neuer Möglichkeiten der Teilhabe gemeinsam mit Bürgern in der Nachbarschaft besteht eine Chance für Menschen mit seelischer Behinderung in eigener Wohnung. Zunächst aber verändert die Weiterentwicklung der ambulanten Sozialpsychiatrie die Eingliederungshilfe für diese Menschen von einem „Rechtsanspruchssystem“ zu einem „Infrastruktursystem“.

 

In dem sozialhilferechtlichen Leistungsdreieck hat der Träger der Eingliederungshilfe die Pflicht der Gewährleistung der erforderlichen Teilhabeleistungen gegenüber dem Leistungsberechtigten und kommt ihr durch die Übernahme der Vergütung gegenüber der diese Leistungen erbringenden Einrichtung im Sinne des § 75 SGB XII als Sachleistungsverschaffung nach.

Auch nach dem neuen System soll es formal bei diesen grundlegenden Maßstäben bleiben:

 

  • Sicherstellung des individuellen Rechtsanspruchs,
  • Sicherstellung des Wunsch- und Wahlrechts gem. § 9 SGB XII,
  • Berücksichtigung datenschutzrechtlicher Regelungen.

 

Der Leistungsträger hat also auch künftig den individuell festgestellten Bedarf des Leistungsberechtigten auf Hilfen zur Teilhabe sicherzustellen. Die staatliche Fürsorge ist als Rechtsanspruch ausgestaltet, §§ 17, 53 SGB XII, einschließlich der gerichtlichen materiell-rechtlichen Kontrolle. Aus ihr erwächst die Pflicht des Leistungsträgers zur Bedarfsdeckung mit der Verschaffung der erforderlichen Sachleistung. Auch bezogen auf die ambulante Sozialpsychiatrie wird er ihr nur nachkommen können, wenn er in einem verwaltungsförmigen Verfahren mit einem Leistungsbescheid die Erfüllung des festgestellten Bedarfs garantiert und bei Ausfall die Leistung selbst vornimmt bzw. vornehmen lässt.

Zu befürchten ist, dass Menschen im Leistungsbezug der ambulanten Sozialpsychiatrie eine – angesichts ihrer Behinderung – unrealistisch aktive und verantwortungsvolle Rolle für die selbstbestimmte Gestaltung ihres Lebens und ihrer Teilhabe an der Gesellschaft zukommt. Aus ihrer Sicht ist es problematisch, dass die Steuerung der künftigen Angebote primär bei den Leistungserbringern liegen und von individuellen Bedarfsfeststellungen und Leistungsbewilligungen der Betroffenen entkoppelt sein wird. Es bestehen Bedenken, ob die dem System der Trägerbudgets innewohnenden Anreize zur fachlichen und personellen Gestaltung der sozialräumlichen Angebote ausreichen werden, um den – neuen oder sich verändernden – Bedarfen der Leistungsberechtigten angemessen differenziert zu entsprechen. Die Strukturen im Sozialraum werden erst entstehen müssen. Für die Rechtstellung der Betroffenen spielt daher ihre Möglichkeit der Durchsetzung ihrer Interessen bei der Erlangung geeigneter Hilfen eine entscheidende Rolle.

Die Sicherstellung von Leistungsansprüchen war bisher stets eine Frage aus dem Bereich des öffentlichen Rechts. Sind Leistungsbedarfe insgesamt oder der Umfang von Hilfen im Einzelnen strittig, beschreitet der Antragsteller gegen den Leistungsträger üblicherweise den sozialrechtlichen Verfahrensweg. In dem System der ambulanten Sozialpsychiatrie werden künftig im öffentlich-rechtlichen Grundverhältnis zwischen Leistungsträger und Leistungsberechtigtem nur noch die Leistungsziele der Eingliederungshilfe benannt werden und inhaltlich den Leistungsbescheid bestimmen. Zeitwerte für den Leistungsumfang und eine Hilfebedarfsgruppe sollen dem Adressaten der Bewilligung zukünftig nicht mitgeteilt werden. Damit bleibt es zwar eine öffentlich-rechtliche Fragestellung, „ob“ eine Leistung der ambulanten Sozialpsychiatrie zu gewähren ist. Fraglich ist aber schon, inwieweit den einzelnen Leistungszielen der Eingliederungshilfe Regelungscharakter zukommt und sie in einem sozialrechtlichen Verfahren durchgesetzt werden könnten. Wird es zukünftig noch Gegenstand dieses Verfahrens sein, Art und Umfang des Leistungsanspruchs zu beschreiben und zu konkretisieren?

Es ist aus Sicht der Berechtigten besonders problematisch, dass sich das „Wie“ der Hilfeleistung wohl primär in das – damit zivilrechtliche - Verhältnis zum Leistungserbringer verlagern wird. Die inhaltliche Bestimmung des Rechtsanspruchs, die bisher systematisch im Hilfeplanverfahren verankert war, verlagert sich nun in das privatrechtliche Dienstleistungsverhältnis. Aus Sicht der Betroffenen gibt der Leistungsträger seine für sie wichtige fachliche Steuerung des Leistungsgeschehens, mit der der Schutz ihrer grundrechtlichen Leistungsansprüche verbunden war, zumindest stückweise auf. Bei rechtlichen Auseinandersetzungen über den Umfang der vertraglich geschuldeten Leistungen zwischen Leistungserbringer und Leistungsberechtigtem gelten weder der öffentlich-rechtliche Ermittlungsgrundsatz noch die direkte Bindung der Grundrechte. Diese Verschiebung der Eingliederungshilfe aus dem Bereich hoheitlicher Fürsorge auf die Ebene scheinbar gleichberechtigter ziviler Vertragspartner beinhaltet – so befürchten Betroffene und ihre Angehörigen – eine Benachteiligung der Leistungsberechtigten bezogen auf ihre Rechtsstellung.

Die Bewilligung von Leistungen der ambulanten Sozialpsychiatrie erfolgt zukünftig ohne Angaben an den Betroffenen zu ihrem Umfang und ihrer Intensität. Die damit für sie einhergehende Rechtsunsicherheit bezogen auf das, was sie konkret in Anspruch nehmen dürfen, schwächt sie in ihrem Vertragsverhältnis als Klient im Leistungsbezug und mindert ihre Chance auf bedarfsgerechte Versorgung im Konflikt. Im Gegensatz zum Betroffenen erfährt der Leistungserbringer den bewilligten Leistungsumfang im Einzelfall für seine Nachweisführung und die Planung seines künftigen Jahresbudgets. Diese, mit dem „Infrastruktursystem“ entstehende, strukturelle Benachteiligung für Menschen mit seelischer Behinderung ist mit Blick auf Art. 3 Abs. 1, S. 2 GG bedenklich.

Es besteht für die Leistungserbringer zwar ein Anreiz, auch zukünftig ihr Leistungsgeschehen transparent zu gestalten, da Umfang und Intensität der Leistungen, Personaleinsatz, Differenziertheit und Detaillierung der Leistungen das Erfordernis des jeweiligen Jahresbudgets nachweisen. Im Jahresverlauf sind sie allerdings in der Ausrichtung ihrer Angebote frei. Hierin kann für den Leistungsempfänger eine Chance für passgenauere Hilfen liegen. Was aber, wenn Leistungsanbieter mit ihrer betrieblichen Entwicklung auf Tarifsteigerungen und anderen Kostendruck „zu Lasten der Schwierigen“ reagieren oder durch De-Professionalisierung und Absenkung von Verbindlichkeit Einsparungen zu erzielen suchen?

Anzuerkennen wäre ein positiver Effekt der Budgetlösung, wenn Anspruchsberechtigte ihre Bedarfe künftig nicht mehr in aufwendigen Kostenübernahmeverfahren durchsetzen müssten. Zu befürchten sind aber auch andere Effekte im Unterstützerkreis der Leistungsberechtigten. Bereits jetzt beobachten Angehörige mit Sorge, wie häufig und persönlich belastend sie in ihrem privaten Kontext Betroffenen Hilfe zur Teilhabe in der Gesellschaft leisten müssen, wenn Bedarfe von den Leistungserbringern nicht oder nur unzureichend gedeckt werden (können). Dieses Problem kann sich in dem für die Betroffenen intransparenten Hilfesystem der ambulanten Sozialpsychiatrie noch verstärken insbesondere dann, wenn Menschen neu Leistungsangebote in dem System wahrnehmen sollen und/oder einen besonders komplexen oder intensiven Hilfebedarf haben.

Fraglich wird sein, ob Betroffene in Zukunft häufiger auf beruflich geführte rechtliche Betreuung angewiesen sein werden. Eigentlich soll sie die ultima ratio der Interessenvertretung sein. Es ist aber naheliegend, dass Betroffene und ihre Angehörigen aufgrund der beschriebenen Verschiebung im Leistungsdreieck und der damit verbundenen Überforderung für die Erreichung und Verhandlung der erforderlichen Hilfen zunehmend eine professionelle Interessenvertretung für erforderlich halten werden. Darüber hinaus kann eine Reduzierung von Fachkräften im System der ambulanten Sozialpsychiatrie ebenfalls die Nachfrage nach professioneller rechtlicher Betreuung erhöhen. Dies wäre eine fatale Entwicklung, da sich die niedrigschwelligen Angebote der rechtlichen Assistenz in der Eingliederungshilfe für Menschen mit seelischer Behinderung in eigener Wohnung bisher häufig als ausreichend erweisen. Die Betroffenen legen meist großen Wert auf ihre rechtliche Selbstbestimmung und wünschen keine rechtliche Betreuung. Nach bisherigen Erfahrungen werden aber gerade diese Menschen sie aktiv in Anspruch nehmen, wenn sie dadurch ihre rechtliche Position stärken können.

Hamburg, den 03.04.2014

Kerrin Stumpf

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